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Hirschmatt

Von der Landidylle zur Stadt von Welt

Auf dem Stadtplan von 1765 werden erstmals die Flurnamen südlich der Stadt, im Schwemmbereich des Krienbaches, erwähnt – neben der Hirschmatt auch die Buobenmatt, Spitalriedmatt, Himmelreichmatt und das Moos. Vorzufinden sind dort Sumpf, Riedland, Wiesen und Weiden. Der nächstgelegene Gutshof ist der Amlehn an der Stelle des heutigen Bundesplatzes.

Und dann ist da das Landgut Hirschmatt mit dem Gutshaus direkt am Hirschengraben, ungefähr auf der Höhe des ehemaligen Stadtausganges am Kropftor (heute Hirschengraben 13), mit einer grossen Scheune an der Stelle, wo später das Hotel Victoria gebaut wurde, und einer Flusskapelle aus dem Jahre 1738. Diese stand am Hirschmattweg, der bereits von kleinen Längsmauern gefasst war.

Das Haupthaus des Landgutes Hirschmatt in einer Aufnahme um 1871
1843 entschied sich die damalige Besitzerin des Landgutes, Cäcilia Balthasar-Zurgilgen, Witwe des Fridolin Balthasar, das Landgut zu verkaufen. Ihr gehörte auch der Grundhof an der Obergrundstrasse zwischen Pilatusplatz und Moosstrasse, der – im Unterschied zum Landgut Hirschmatt – heute noch steht. Käufer war Rudolf-Alois Kauffmann-Barth, der Sohn eines eingewanderten Metzgergesellen aus Österreich, der in Luzern eine Metzgerdynastie begründete. 

Eisenbahn bringt den Aufschwung

Auch um 1850 war das Hinterland der Stadt noch kaum besiedelt. Vom Hirschengraben bis zum Weinbergli und vom Obergrund bis nach Tribschen gab es erst etwas mehr als zehn Gebäude. Allerdings stieg nun der Druck – vor allem auf die Hirschmatt. 1853 erhielt die Schweizerische Centralbahn von der Luzerner Regierung die Konzession für die Linie von Olten nach Luzern. 1856 fuhr der erste Zug, allerdings nur bis Emmenbrücke. In der Stadt konnte man sich nicht auf einen Standort für den Bahnhof einigen. Schliesslich entschied der Stadtrat gegen die Sentimatt, die von massgeblichen Kreisen wegen ihrer Nähe zur Altstadt bevorzugt wurde. Er beugte sich dem Willen der Centralbahn, die in der Frohburg den Anschluss an den Schiffsverkehr suchte.

1859 wurde der Bahnhof am linken Seeufer eröffnet, ein Jahrzehnt vor der Seebrücke. Nun begann die Stadt zu wachsen – rund um den Bahnhof und noch kaum mit positiven Impulsen für die Hirschmatt. Dort, wo sich die Stadt auf das Wiesland ausdehnte, gab sie ein unansehnliches Bild ab. 1858 entstand mitten in der Hirschmatt das erste Gaswerk der Stadt, umgeben von meist einstöckigen, eher schäbigen Holzschuppen.

Ein erster positiver Entwicklungsschub erfolgte, als Wilhelm Keller mit seiner Baufirma nach Luzern zog. 1864 kaufte er eine 5000 Quadratmeter grosse Parzelle von Rudolf-Alois Kauffmann, und bereits zwei Jahre später begann er mit dem Bau des Kellerhofs, den er in neugotischem Stil errichtete und an der Pilatusstrasse zu einem repräsentativen Familien- und Firmensitz machte. Keller und Kauffmann waren die prägenden Persönlichkeiten in der Entwicklungsgeschichte der Hirschmatt. 

Hirschmatt auf dem Reissbrett geplant

Noch hatte das Quartier aber ein entscheidendes Problem. Es war durch die Bahnlinie von der übrigen Stadt abgeschnitten und 1890 gab es erst sechs Wohngebäude zwischen dem Kellerhof und der Neustadt. Kauffmann und Keller investierten bis zu diesem Zeitpunkt vor allem entlang der Pilatusstrasse. Diese endete aber wegen des Bahnhofs bereits an der Hirschmattstrasse.

Erst mit dem Neubau des Bahnhofs, der 1896 eröffnet wurde, und mit der Verlegung der Bahnlinie, die nun in einem Rundbogen um die Hirschmatt herum führte, wurde die Erweiterung der Stadt möglich. Bereits 1895 hatte der Stadtrat einen Stadtbauplan initiiert, der zwei Jahre später in Kraft trat und der eine schachbrettartige Überbauung des Hirschmatt- und der anderen Aussenquartiere vorsah.

Fieberhafte Bautätigkeit

Nun setzte eine fieberhafte Bautätigkeit ein. Innerhalb von wenigen Jahren entstand auf dem flachen Gelände eine grossstädtische Blockrandbebauung mit Prunkfassaden und breiten Boulevards, mit markanten sechsgeschossigen Eck- und Stirnbauten, mit Wohnungen, Geschäften und Hotels. Allein im August 1901 befanden sich 22 Wohnhäuser im Bau, die 1000 Bauarbeiter beschäftigen. Das Hirschmattgebiet wurde zum neuen Kernbereich der wachsenden, modernen Stadt. Im Volksmund wurde es das „Zukunftsviertel“ genannt.

Wie schnell gebaut wurde, zeigt das Beispiel des Hotels Monopol: Ende März 1898 wurden drei Baublöcke gemäss Stadtbauplan zwischen der Zentral- und der Hirschmattstrasse für 1,2 Millionen Franken versteigert; innerhalb eines Jahres waren sie überbaut. Das Hotel Monopol mit einem gewaltigen Bauvolumen und einer der aufwendigsten Fassaden seiner Zeit eröffnete bereits im Juni 1899.

Im Hirschmattquartier wurde gebaut, und es wurde spekuliert. Im Sommer 1899 berichten die Zeitungen, dass ein Bauer für 3600 Quadratmeter Riedstück beim Güterbahnhof von der Centralbahn über 120‘000 Franken erhalten habe – bei einer amtlichen Schatzung von 2000 Franken.

Nach weniger als 15 Jahren war das Hirschmattquartier fast vollständig überbaut. Die Bevölkerungszahl in der Stadt Luzern hatte sich gegenüber 1850 vervierfacht, in der Hirschmatt lebte der neue Mittelstand, der aus Beamten, Unternehmern, Angestellten und Arbeitern bestand.

Wie schnell die Entwicklung verlief, lässt sich aus den Stadtplänen von 1890 und 1912 herauslesen. Auch die Postkartenansichten von Luzern zeugen von der Veränderung.

Vorher-nachher-Vergleich der Stadt Luzern aus der beliebten Vogelperspektive vom Gütsch – hier in einem Aquatinta-Druck von 1840

Und hier auf einer Postkarte von 1912.

Gegenbewegung nach 1911

Nach den Boomjahren setzte eine gewisse Beruhigung und architektonisch eine Gegenbewegung ein. Einerseits wurden die Blockrandbebauungen lockerer gestaltet, die Innenhöfe wurden nun nicht mehr mit Gewerbebauten überstellt und nach 1928 entstanden – allerdings ausserhalb des Hirschmattquartiers, nämlich an der Claridenstrasse – sogar die ersten Zeilenbauten. Andererseits nahm man Abstand von der schwülstigen Fassadengestaltung der Architektur um die Jahrhundertwende.

Das erste moderne Gebäude wurde 1935 fertiggestellt – die reformierte Lukaskirche auf der ehemaligen Zentralmatte. Mit der Zentralbibliothek wurde dann 1951 die letzte Parzelle überbaut. Erhalten blieb das Vögeligärtli als die grüne Lunge des Quartiers.

Hochkonjunktur bringt Veränderungen

Einschneidend auf das Hirschmattquartier wirkte sich die Hochkonjunktur der Sechziger- und Siebzigerjahre aus. Wohnungen wurden saniert, zum Teil auch abgerissen und durch moderne Gebäude in der Architektur der Sechzigerjahre ersetzt. Dadurch wurde der Anteil an Büros, Praxen und Gewerberäumen um bis zu 20 Prozent erhöht und als Folge nahm die Bevölkerungszahl zwischen 1960 und 1975 um 30 Prozent ab.

Schon immer war die Hirschmatt ein Trendquartier – zunächst für die neuen Einwohner der Stadt, dann für das Gewerbe, heute vermehrt für das Party-Volk. Der kontinuierliche Druck der City hat dazu geführt, dass die Wohnungen kleiner und die Unterhaltungsmöglichkeiten grösser werden – und dazu, dass nur noch wenige Familien im Quartier leben. Deshalb gilt der Kampf heute der Erhaltung der Wohnlichkeit, der Wiederbelebung und Begrünung der Innenhöfe und der Bändigung des Verkehrs. Damit soll das Quartier bleiben, was es schon immer war – ein Ort der Vielfalt. 



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